Freiheit und Abhängigkeit
Die metaphysische Unterscheidung zwischen Willens- und Handlungsfreiheit ist nicht wirklich plausibel, wenn man die Fähigkeit zum Handeln definiert als die Fähigkeit, absichtsvoll Wahlentscheidungen zu treffen. Handeln und Wollen gehören sowohl logisch-semantisch als auch psychologisch zusammen. Was sollte der Wille - sofern er überhaupt einen Bezug zum eigenen Handeln hat - auch anderes sein als die Absicht zum Handeln oder Nicht-Handeln? Nennen wir dies das Kernkonzept des Willens und unterscheiden es von anderen sprachlichen Formen der Willensäußerung, die eher den Bereichen des Wünschens oder Imaginierens ("Ich will reich, gesund, glücklich und schön sein!") und Fremdbestimmens ("Ich will aber, dass du das für mich machst!") zuzuordnen sind. Diese nennen wir die Randkonzepte des Willens. In einer eher trivialen Hinsicht mag die Unterscheidung sinnvoll sein. Man unterscheidet auch zunächst zwischen Wollen und Handeln. Eine Absicht ist nicht zugleich ja schon die Ausführung einer Handlung. Doch auch wenn es sinnvoll ist, nach der Handlungsfreiheit zu fragen, ist es nicht im gleichen Maße zweckmäßig, nach der Freiheit des Wollens zu fragen. Denn dann läuft man Gefahr, das Wollen als eine Art Handeln aufzufassen. Lässt sich die Frage nach der Handlungsfreiheit noch relativ leicht beantworten - ein Mensch ist in seinem Handeln frei, wenn er das tun kann, was er will -, so stößt man bei der Suche nach der Willensfreiheit schnell an eine logische Barriere: Ist ein Mensch dann in seinem Wollen frei, wenn er wollen kann, was er will? Das Handeln wird durch den Willen erklärt, wodurch erklärt man aber das Wollen? Man sieht auf einen Blick, dass hier - beim Wollen des Wollens - ein logischer Zirkel vorliegt, der auch durch begriffliche Tricks - beispielsweise die Einführung eines gestuften Willens - nicht wirklich behoben werden kann. Ich glaube, dass die zeitgenössische Diskussion der Willensfreiheit daran krankt, dass der Wille als autonomer bzw. heteronomer Agent betrachtet wird, der im Falle der Freiheit als irrationaler Despot, im Fall der Unfreiheit als Marionette und Sklave biochemischer Prozesse erscheint. Dabei scheint es unausweichlich, den Willen - ebenso wie das Handeln - als bedingt (Bieri) zu betrachten. Während man aber in den Bedingungen von Handlungen nicht automatisch Argumente gegen die Handlungsfreiheit sieht, ist das bei der Willensfreiheit anders: hier gelten Bedingungen zwangsläufig als Einschränkungen der Freiheit. Wenn ich einerseits genau dann frei darin bin, Auto zu fahren, wenn ich sowohl über eine Fahrerlaubnis als auch über ein Auto verfüge und andere rechtliche bzw. materielle Bedingungen erfüllt sind, dann gelten andererseits für die Willensfreiheit materielle Bedingungen - wie beispielsweise biochemische und neurologische Prozesse - nicht als Ermöglichungsbedingungen, sondern als Determinanten und Restrinktionen des Willens. Dabei scheint es doch nahe liegend, auch für den Willen die gleichen Ermöglichungsbedingungen gelten zu lassen wie für das Handeln. Bin ich nicht frei darin, Auto fahren zu wollen, wenn alle Bedingungen für die Ausführung der Handlung erfüllt sind? Und gerät mein Wille zum Autofahren nicht aus dem Kernkonzept des Wollens in das Randkonzept des Wunsches oder der Imagination, wenn die Handlungsbedingungen gar nicht erfüllt sind, ich gar nicht Auto fahren kann (im subjektiven oder objektiven Sinn)? Es besteht eine merkwürdige Asymmetrie in der Beschreibung beider Phänomene: Handlungsfreiheit wird als Freiheit von Zwang definiert, also wesentlich negativ konzeptualisiert. Der positive Aspekt wird durch die Opportunitäten, die sachlichen Gegebenheiten abgedeckt. So gilt jemand als frei, wenn er (1) die subjektiven Dispositionen hat, eine Handlung auszuführen (z.B. Absichten und Fähigkeiten), (2) davon nicht durch Zwang abgehalten wird, wenn (3) eine Opportunität zum Handeln besteht. Wer durch Zwang nicht zu einem Handeln gezwungen ist oder von einem Handeln abgehalten wird, das er will, der gilt als frei. Im Fall der Willensfreiheit scheint aber viel mehr verlangt zu werden: nicht nur, wer nicht gezwungen wird, etwas Bestimmtes zu wollen oder nicht zu wollen, sondern nur der, der über sein Wollen selbst bestimmen darf, der gilt als frei. Aber was heißt das, über sein Wollen selbst zu bestimmen? Doch nur, dass niemand anderes mein Wollen bestimmt, dass ich keinen fremden Willen habe, sondern eben meinen. Es heißt nicht, dass mein Wille frei von (z.B.) neuronalen Bedingungen sein muss, um mein Wille sein zu können. Hinter der Idee, dass nur ein selbstbestimmter Wille frei sei, steckt möglicherweise eine richtige Beobachtung, die aber nicht angemessen verstanden wird. Die Beobachtung nämlich, dass an der Willensbildung externe und interne Einflußgrößen beteiligt sind. Wenn an der Bildung meines Willens eher externe Effektoren beteiligt sind, dann gilt mein Wille als fremdbestimmt, also unfrei. Und umgekehrt. Durch die Neurobiologie nun kommt erschwerend hinzu, dass nach diesem Verständnis die Willensbildung immer externen Effektoren unterliegt, da kein Mensch seine neurobiologischen Prozesse, die einen bewussten Willensentschluss initiieren, frei wählen kann. Die Frage ist, ob man das Problem lösen kann, indem der Begriff des Selbstes als einer psychsomatischen Einheit an die Stelle des bewussten Ich als Träger des Willens gesetzt wird (Roth). Man integriert auf diese Weise die externen, physischen Effektoren in das Gesamtkonzept der wollenden und handelnden Person. Dennoch fehlt in der Konsequenz die Schlussfolgerung, dass wer als Person in seinem Handeln frei ist, dies auch in seinem Wollen ist. Vorausgesetzt, die obigen drei Bedingungen sind erfüllt. Warum wird an der Unfreiheit des Willens festgehalten? Im Hintergrund dieser Diskussion steht das alte metaphysische Probleme des Anfangs, der Arché. Wendet man sich in der Handlungstheorie der Frage zu, was primär ist - die Handlung oder die Absicht -, dann liegt es auf der Hand, der Absicht den Vorrang zu geben. Wenn man weiter fragt, in welcher Weise Absichten frei wählbar sind, kommt man schnell zum Zirkelproblem (oder infiniten Regress, je nach dem, wie man das Problem betrachtet). Löst man das Problem, indem man den Willen als grundsätzlich unfrei, weil nicht wählbar, betrachtet, dann handelt man sich für die Handlungstheorie ein weiteres Problem ein. Wenn der Wille unfrei ist, wie können dann Handlungen - die Exekutive gewissermaßen - frei sein. Der Schluss muss lauten: Ein unfreier Wille kann keine freien Handlungen verursachen.
Richtig ist natürlich: Logisch-semantisch betrachtet kann eine Absicht vorliegen, aber keine reale Wahlmöglichkeit; oder es kann die Handlungsmöglichkeit bestehen, ohne dass eine geeignete Motivation vorliegt. Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob man einerseits davon abgehalten wird, das zu tun, was man will oder andererseits frei ist, auf eine bestimmte Weise zu handeln, ohne den entsprechenden Willen zu haben (auch wenn man die Wahl dieser Handlung vernünftig oder aus anderen Gründen attraktiv fände). In diesem Sinn kann man zwischen objektiver und subjektiver Freiheit unterscheiden, genau wie man zwischen zwei Arten des Könnens unterscheiden kann. Dabei umfasst objektive Freiheit alle externen Bedingungen, denen jede Handlung unterliegt. Ich bin beispielsweise nicht frei, Auto zu fahren, wenn ich kein Auto (zum Fahren) habe. Wer in seinen Handlungen nicht frei ist, wer also einer Einschränkung seiner Willkür unterliegt, dessen Wille ist natürlich auch nicht frei. Das Gegenteil von Willensfreiheit ist nicht der neurobiologische Determinismus. Es ist vermutlich, wie Peter Bieri meint, der Zwang, ob nun physisch oder psychisch. Von Aristoteles bis Peter Bieri wird Freiheit als Freiheit von Zwang beschrieben, der einem Menschen keine Wahl lässt, selbstständig – sua sponte – zu entscheiden und zu handeln. Heikel wird es aber, wenn der Handelnde und Wollende keinerlei Zwang erlebt oder erkennt - sondern glaubt und fühlt, ganz und gar frei zu sein. Und doch bemerkt ein jeder, dass mit diesem Glücklichen etwas nicht stimmt. Das Problem ist also: Wie um alles in der Welt finden wir heraus, ob jemand - einschließlich unserer selbst - unter Zwang will und handelt oder eben frei darin ist?
Gravitation
Jedes Mal, wenn der Sekundenzeiger weiterrückt, biegt er sich unter dem Gewicht der Welt und droht zu brechen.
Mit großer Regelmäßigkeit – genau genommen jeden Morgen auf dem Weg zur Schule und bei jedem auch nur entfernt mit diesem Thema verknüpften Gedanken - drehte sich ihm der Magen um, und ein umgekehrter Magen verdaut nicht mehr zum Wohle seines Wirts, sondern treibt ihm den Angstschweiß auf die Stirn und in die Unterhose, wenn die mobilen, elektronischen Toiletten defekt und im Park hübsche Blondinen - mit Pferdeschwanz im Joggingdress ihre Spürhunde ausführend - unterwegs sind und kein Busch unbewacht ist.
Der getrieben Unglückliche reißt sein Rad herum wie sich ein Pferd vor einer Klapperschlange aufbäumt und fällt blind durch die strauchlose Betonsteppe auf einer abschüssigen Bahn in die Tiefe. Das sich drohend nähernde lustige Kindergeschrei signalisiert ihm Zielerreichung, wie eine Granate fühlt er sich – wenn eine Granate Gefühle hätte -, die in einen Kindergeburtstag fällt. Oder wie ein Rekrut im Auslandseinsatz. Alles eine Frage der Perspektive. Die Lehrerlaubnis als Lizenz zum Töten. Oder zum Getötet-Werden. Dabei ist er doch der Wolf im Schafspelz, über dessen angelegten Ohren das Schlachtbeil namens lückenloses System aus Kontrolle und Sanktion in der Sonne blitzt.
Gerade klingelt es zum Pausenende, als er sein einziges Fluchtmittel schweißnass und staksend zu den bunt lackierten Eisenreifen schiebt, die zur Hälfte aus der Erde ragen, um es daran doppelt fest zu ketten, damit es nicht ohne ihn flieht. Ohne stützenden Rollator hält er sich an seiner schweren Lehrertasche fest, die ihm mit ihrem Gewicht auch die Würde verleihen soll, deren Bürde er in vielerlei Gestalt fühlt, als Klinkersteine im Magen, als wäre er tatsächlich der endlich überlistete böse Wolf, als Strick um den Hals, als wäre er eben doch nur das widerstrebende Böcklein, das von unsichtbarer Hand zur Schlachtbank geführt wird.
Unter der Maske des zielstrebigen Grinse-Profis, an den sich gleich die Kinder schmeißen wie die Fliegen, hakt es, die Denkräder sind blockiert, es kracht und knirscht immerzu nolens, quietsch, volens, krach, nolens,…es muss ihm gelingen, die Umkehrung der Angst in ihr Gegenteil, die Kehre im Denken, bevor ihn die prüfenden Blicke hinter den Masken der Kollegen durchbohren. Und da poltert beim letzten nolens der Stein des Anstoßes aus der schon berstenden Maschine, seinem widerstrebenden alter Ego mitten aufs Haupt. Angst ist die Maske des Wissens, das sich selbst nicht sehen kann. Unglücklich-Sein ist nur umgekehrtes Glück.
Das kann aber dreierlei bedeuten: Das Glück hat sich auf den Weg gemacht, hat sich verlaufen oder sein Ziel verloren und ist nach Hause zurückgekehrt und wartet dort. Worauf? Dass es zu sich selbst kommt. Unbrauchbar! Oder: Das Glück steht groß und breit in der Tür, stört dort aber beim Großreinemachen und wird kurzerhand unter den Teppich gekehrt. Dort liegt es jetzt wimmernd, beult den Teppich aus und jeder stolpert darüber. Taugt nichts! Oder: das Glück sitzt falsch herum auf dem richtigen Zug des Lebens und wundert sich, dass es sich von jedem Ziel entfernt, während es irgendeinem Ziel zumindest doch immer näher kommt. O.K. Muss mich einfach nur umdrehen, gut! Hübsch, wie in Platons Höhle! Es kann noch mancherlei bedeuten, beispielsweise die schicke neue Hose, die linksherum zum Trocknen aufgehängt wurde und mit ausgefransten und hängenden Nähten und Taschen traurig auf dem Dachboden baumelt wie aufgeknüpft. Nein, nein, das mit dem Zug war gut! Bin schon auf dem richtigen Zug, muss mich nur noch richtig herumsetzen. Vielleicht einsteigen. Besser wär’s!
Dass Gegensätze sich irgendwo berühren, sei es im Unendlichen, also ziemlich weit weg, oder in unmittelbarer Nachbarschaft, was das Berühren erheblich erleichtert, kann als Binsenweisheit gelten, wenn diese Weisheit im Anwendungsfall nicht ständig in die Binsen ginge und regelmäßig ersöffe. Nicht so pessimistisch! Ah, einen wunderschönen guten Morgen, Herr Feldwebel! Denn nach beliebig vielen Sätzen Tennis, bei denen immer nur die eine Seite verliert, freut sich auch immer nur die andere Seite; auf beiden Seiten fehlt der Blick für das Ganze, in dem notorisch das Glück des einen mit dem Unglück des anderen verknüpft ist, die Gegensätze berühren sich zwar, aber nur auf der digitalen Anzeige, die synoptisch den Punktestand wiedergibt.
Das Leben ist kein Tennisspiel! Es gibt auch kooperative Spiele! Wer will immer gleich ans Verlieren denken! Guten Morgen, Frau Überwachungskamera! Was sich berührt, wird einander nicht ähnlicher als der panische Schwimmer in einem Schwarm Feuerquallen diesen ähnlicher wird. Hallo Jacqueline, na, quälen dich deine MitschülerInnen immer noch, tja, da kann ich dir leider nicht helfen! Schwimmt das Glück erstmal im Teich, könnte man es aufheben, was aber wiederum vielerlei bedeuten kann, aber auf keinem Fall, dass es das jungenhafte, rotbäckige Strahlen behielte, mit dem es sich anfangs auf die Suche nach sich selbst gemacht hatte, bevor es unterging, um dann leicht als aufgedunsene Biomasse als Teil eines intakten ökologischen Systems wieder obenauf der Abendsonne zuzutreiben. Hallo Erdogan, nimmst du bitte die Hundescheiße aus Celines Haaren, danke! Die quälenden Krämpfe in der Leibesmitte zerteilten den Körper in zwei komplementäre, undichte Hälften, die im erdnahen Segment Diarrhö, im sonnennahen Abschnitt Heulen und Zähneklappern hervorbrachten. Brachte sich der fragliche Organismus in die Nähe einer brenzligen Situation, fing er auch schon an zu kollabieren, gegen sich selbst zu wüten, sich selbst zu verschlingen. Der vegetative Orientierungssinn richtet sich offenbar nach einem anderen Stadtplan als der Neokortex; der Navigator seiner Eingeweide signalisiert höchste Alarmstufe, während der Lehrer Kahn nur seinem Broterwerb entgegeneilt.
Diese Geschichte hat, wie jede Geschichte, eine Vorgeschichte. Herr Kahn war in jungen Jahren ein so miserabler Schüler und hatte sich eine für seine spätere Karriere recht nachteilige, für sein schulisches Scheitern aber vorteilhafte Mismundologie zurechtgelegt, die ihn, da man Weltverachtung damals nicht als Beruf ausüben konnte, zur Berufslosigkeit verurteilt hätte. So verdingte er sich in einem protestantischen Behindertenheim für 20 Jahre – das war geistige Korruption und Kapitulation in doppelter Hinsicht. Er war und ist kein gläubiger Christ, eher ein bekennender Atheist, und sein Sinn für heilpädagogisches Tun war nie sonderlich ausgeprägt. Kaum erträglich, dass er sich in diesem Milieu auch noch wohl fühlte. Und doch – auch die protestantischen Kirchen konservierten vor ihrer marktkonformen Volte ja eine literarisch-philosophische Existenzform, die in der Klosterkultur ihren Ursprung hatte und im 19. Jahrhundert eben die bürgerlich-intellektuelle Lebensweise maßgeblich mitbedingte. Asketische Weltverneinung, komfortabel zurückgezogen hinter kilometerlangen Bücherwänden. Ein vermeintlich unüberwindlicher Limes gegen die Barbarei des realen Lebens. Kein Wunder und im Grunde folgerichtig, dass er das korrupte Leben einer Kirchenmade führte. Aber er glaubte, es sich selbst schuldig zu sein, doch noch etwas aus seinem Leben machen zu müssen.
Er brauchte 15 Jahre, um sich aus dieser Abhängigkeit herauszuarbeiten, um zumindest dem Angst-Aspekt seines Ideals vom freien Geist etwas näher zu kommen. Der Angst-Aspekt bestand darin, dass er sich nicht vorwerfen lassen wollte, es zu nichts gebracht zu haben. Als Dilettant wollte er sich nicht beschimpfen lassen, sich nicht als Schulversager und Ausbildungsabbrecher in traurigen Statistiken wiederfinden.
Er liebäugelte also mit dem Staat und seinem Öffentlichen Dienst, diesem herzkranken Leviathan, der nur wegen seiner Ganzkörperödeme so imposant adipös wirkt. So verplemperte er – als nolens volens angepasstes Zuchtvieh - 15 Jahre mit dem Austrampeln eines schon ausgetrampelten formalen Bildungsweges, der ihn nur zu der eingangs vorhandenen Einsicht zurückführte, dass die Welt des institutionalisierten und konservierten Wissens und Könnens eine Gefühle und Gedanken mordende Arbeitsmaschine ist, die freilich viele in Lohn und Brot hält. Ein Zoo der freiwilligen Knechtschaft, in dem die show dogs über die Kamele spotten. Einblicke in die Eingeweide unserer Bildungsinstitutionen brachten nur die Eitelkeiten, Kämpfe und Krämpfe der Professoren, Lehrer und Seminarleiter und die Ängste der Schüler, Studenten, Seminaristen und Lehramtsanwärter zum Vorschein. Ein Sumpf, in dem die schönsten Blumen blühen. Eine korrupte und korrumpierende Melange aus Ehrgeiz, Egoismus und Scheinwissen, umflort von leichensüßen Worthülsen. Im Sumpf aus Betrug und Selbstbetrug, Lüge und Kalkül, Macht- und Karrieredenken lernt man nicht schwimmen, nur strampeln und treten. Er war in der Rolle des Schülers nie gut, in der Rolle des Lehrers war er ein kompletter Versager. Denn er wollte die Schüler aus der Knechtschaft eines jahrtausendealten Übersetzungsfehlers befreien. Für die Schule lernt ihr, nicht für’s Leben. So heißt es richtig bei Cicero.
Es gibt viele Orte auf der Erde, wo er jetzt sein könnte. Aber wenn man den Ort, von dem man kommt, nicht mit allen Mitteln der Kunst verabschiedet, tritt man auf der Stelle oder zerreißt sich selbst. Wie weit man auch geht, man kommt immer wieder am Anfang an; nur der Riss wird immer größer. Dem, der nicht Kind sein durfte, weil er zu früh erwachsen werden, versteinern, kristallisieren musste, fällt es schwer, Abschied von der Kindheit zu nehmen. Er bleibt ewig ein Kind ohne Kindheit, das das Leben der Erwachsenen nur spielt. Er spielt den Vater, der seine Kinder umsorgt und erzieht, er spielt den Berufstätigen, der Verantwortung trägt und Geld nach Hause bringt, er spielt den Liebenden, der weiß, was die Liebe braucht und gibt.
Er spielt den Klugen und Warmherzigen, dem man vertrauen kann. Alles an ihm ist verzweifeltes Spiel, nur seine Verzweiflung ist nicht gespielt. In den Momenten der Klarheit, wenn ihn die Kraft verlässt, wenn die Zumutungen der Rolle unerträglich zu werden scheinen, packt ihn die Angst, würgt, schüttelt ihn, tritt ihn, brüllt ihn an: „Warum hast du mich nicht besser im Griff, du Hornochse!“. Er könnte entlarvt werden, in dem Riss verschwinden, der sein Leben einem Erdbebengebiet gleich macht. Seine Frau, seine Kinder, seine Kollegen erkennen in ihm plötzlich nicht mehr denjenigen, der er zu sein vorgibt, sondern denjenigen, der er ist. Er spielt seine Rolle schlecht, seine Gesten sind fahrig, seine Mimik gekünstelt, sein Rollentext stolpert. Sie reißen ihm die Maske vom Gesicht. Ist da ein Gesicht? Es ist mit der Maske verwachsen. Unter der Maske hat sich die Wunde nicht geschlossen, keine neue Haut hat sich gebildet, es ist immer derselbe alte Schmerz derselben alten Wunde. Er würde gesichtslos verbluten. Mit dem Charme des Unzulänglichen, mit dem Witz der Fehlbarkeit versucht er, seinen Zusammenbruch zu vertuschen. Wie in der Operette schwimmt er im eignen Blut und singt noch. Damit keiner erkennt, was offen zu Tage liegt.
Es ist ja nicht so, dass er nicht gewarnt wurde, dass er ganz ohne Vorbereitung in die Höhle des Löwen geschickt wurde. Aber vor dem, was ihn erwartete, konnte ihn kein kluger Rat retten. Die Alten, die Erfahrenen, die lang Gedienten, alle sagten sie ihm gleich zu Anfang: „Es geht nicht anders, du musst die Regeln festlegen, du musst sie durchsetzen, du musst deine Stimme einsetzen, du musst strafen, sonst lernen sie nicht. Du musst ein konsequentes System der Kontrolle und der Sanktionen etablieren, sonst gehen sie dir über Tisch und Bänke, streiten, schreien, beklauen und beschimpfen einander, verweigern die Arbeit, wälzen sich auf dem Boden, rennen aus der Klasse raus, werfen mit fremden Federtaschen und Plastikflaschen herum, lehnen sich zu weit aus dem offenen Fenster, spritzen mit klebrigen Säften, schmieren den Mädchen Reste von Kot und zertretenen Nacktschnecken ins Haar, die sie sich von der Schuhsohle kratzen…! Am Anfang hilft nur Gewalt, wenn du Frieden willst!“ Und vor allem: „Behalte deinen Humor, deine Gelassenheit, die Insignien deiner Herrschaft!“
Er hat die Könner und Routinierten beobachtet, wie sie mit einem lückenlosen System aus Kontrolle und Sanktionen die Schüler abgerichtet haben, bis Unterricht und auch Freundlichkeit möglich waren; aber im Minutentakt zückten sie ihre kleinen Messer, bleckten sie ihre Reißzähne, zogen sie die Stimme an, hagelte es scharfe, kurze Drohungen. Er hat auch ihren Humor, ihre Gelassenheit beobachtet, es war der matte Zynismus von Verurteilten, die an ihrer Situation ohnehin nichts ändern können, die sich mit einem Augenzwinkern ins Unvermeidliche schicken, die die Augen verschließen vor der Hölle, in der sie als Heizer unbefristet und unkündbar sich eine nicht einmal goldene Nase verdienen. Er dagegen, als blutender Angestellter in der Probezeit, brüllte sich Herz und Hirn aus dem Leib, um das Untier zu bändigen, dem er doch die Fesseln abnehmen wollte.
Mit der Hysterie eines Missionars, der die Sanften mit frommer Predigt einfängt, die Widerständler mit Feuer und Schwert zur Bekehrung zwingt, kam er sich wie ein Pionier vor, der eine bewohnte, aber verwilderte terra incognita kultivieren, zivilisieren und moralisieren müsse, der die hohen Werte der Menschenrechte, der Aufklärung und der Bildung einer verwahrlosten Kinderschar lauthals eintrichtern müsse, die sonst die demokratische und humane Kultur der Zukunft gefährden könnte.
Auf dem ersten Blick sah er Kinder, kleine, einsame, verzweifelte Kinder, die um ihr Leben betrogen werden, die schikaniert, gedemütigt, ignoriert, überfordert und vor allem unterdrückt werden, die im häuslichen und städtischen Elend überleben müssen und in der Schule ihren ganzen Hass, ihre Langeweile, ihre Wut aneinander auslassen, weil sie hier, wahllos aus fünfundzwanzig verschiedenen Schicksalen zusammengepfercht, dazu gezwungen werden, für ihr Leben Sinnloses zu lernen, weil sie hier für jeden Fehler bestraft werden, den sie machen, weil die Schule ihnen nicht das gibt, was sie brauchen, sondern nur noch mehr von dem, was ihr ganzes Leben so nutzlos und leer macht; wenn dann ein neuer Lehrer kommt und ihnen freundlich die Hand reicht, leise und vernünftig zu ihnen spricht, sie zu einem Spiel einlädt….Wenn dann die Fesseln gelöst, die Tore geöffnet werden… Endlich, denken die Kinder, endlich ein Mensch. Endlich frei!
Aber das Gesicht der Befreiten zeigt wahnverzerrte Züge, die Qualen und Schrecken der Repression sind ja nicht vergessen. Was befreit wird, das ist der Schrei des Schmerzes, der die Trommelfelle zum Platzen bringt. So ging das wochenlang, die Kinder spielten ihm ihre leidenden Seelen vor, es ist ja nur Spaß, Herr Kahn, wir sind ja nur Kinder, Herr Kahn, wir dürfen das, Herr Kahn!, ihre verkümmerten Körper zappelten unkontrolliert durcheinander. Er sah keine Kinder mehr, sondern nur noch Symptome einer Gesellschaft, die aus den Fugen gerät.
Bis er es nicht mehr ertrug, die Tränen, die Klagen, das höhnische Lachen der Brutalität, die Inszenierung des Verfalls, der Barbarei, das Üben des Bürgerkrieges. War das die wahre Natur des Menschen, das homo homini lupus? So wenig wie der Kannibalismus auf einer im weiten Meer verlorenen Nussschale. Aber Menschen werden zu Bestien, wenn sie sich, auch im größten Reichtum, verloren geben, wenn sie die Hand beißen, die sie füttert.
Das Schrecklichste war nicht, dass er in Rage geriet und die Schüler als seine Feinde oder als wilde Tiere betrachtete, die er bändigen musste, bevor er sie hätte abrichten können, das Grauen erfasste ihn nicht, als er zu schreien begann, sondern als er erkennen musste, dass es wirkte. Als er erschüttert zur Kenntnis nehmen musste, dass sie gearbeitet haben, dass sie gehört haben, dass sie ruhig waren, dass sie tatsächlich etwas produziert haben, dass sie im Team gearbeitet haben, sich auf ein Thema einigen konnten, sich halbwegs an die Regeln gehalten haben, nachdem er mit Theaterdonner eine Drohkulisse vor ihnen aufrichtete, er ihnen mit Machtgebärde ankündigte, dass er sie alle zerstören, vernichten könnte, wenn er nur wollte.
Der nette Neue war nur ein fake, ein Versuchsballon, der beim ersten Sturm platzte und als Feuerregen niederging. Die tosende, lärmende, rasende, schreiende tausendköpfige Hydra, die nach ihm schnappte, als er zum ersten Mal den Klassenraum betrat, stieb auseinander, die Meute floh aufheulend davon und vom Kriegsschauplatz blieben nur traumatisierte Kinder übrig, die sich über ihre Hefte duckten wie verängstigte Tiere.
Alles, was er an Kollegen beobachtet hatte, was ihm missfiel, was seine Ablehnung hervorrief, das Strenge, Habichtartige, das Scharfe, Strafende, plötzlich Laute – heute war es präsent, er hörte sogar die fremden Stimmen in sich, durch sich sprechen, spürte, wie seine Gestik und Mimik sich veränderte und sich ihnen anglich. Er hatte sich um Lichtjahre von der Klasse entfernt, von sich, vom Menschlichen. Ja, selbst von seinen eigenen Kindern, seiner Familie, seinem Leben. Er hätte auch auf einem Kasernenhof stehen können, in einem Gefängnis, in einem KZ, er war ein garstiger böser Zwerg, dem Menschlichen entwöhnt, gierig nach dem Erfolg, besessen von dem Wunsch, die Schüler mögen sich nach seinem Willen verhalten. Das Problem der Kinder war jedoch, dass sie sich nach keinem Willen richten können. Am wenigsten nach dem eigenen. Sie gehorchen nur der Gravitation der Angst. Freiheit bedeutet für sie die Aufhebung der Schwerkraft.
Er hat Freiheit immer so verstanden, dahin gehen zu können, wohin ihn innere Notwendigkeit – nach einem sogenannten abwägenden Entscheidungsprozess und in einem wohl verstandenen Kompromiss mit äußeren Zwängen – treibt. Alles abwägen, alle Situationen und Alternativen durchspielen kann ja keiner, ganz selbstbestimmt, unabhängig von sogenannten äußeren Bedingungen, völlig frei in seinen Entscheidungen ist ebenfalls keiner. Es gibt aber diesen inneren Kompass, der sich am Lebensziel orientiert, diesen geheimen Lebensplan, der einem Leben allen Turbulenzen zum Trotz Form und Richtung gibt.
Was ist dieser Lebensplan? Angeborene Entelechie, metaphysischer Charakter oder ein Umweltprodukt, eine tiefe Gewohnheit oder ein verstetigter Reiz-Reaktionskomplex? Es ist ein Lichterkranz, mit zitternden Fingern im Dunkeln über Jahre aus den einzelnen Lichtblicken, ekstatischen Visionen einer Lösung zusammengebunden. Ein Lebensplan ist ein Fenster zum Glück. Oder, prosaischer, die Überlebensstrategie eines Kindes, das nicht merkt, wie es allmählich erwachsen wird. Frei ist ein Mensch nur, wenn er sich an diesem Kompass orientierend erfolgreich im widerständigen Meer, Riffe und Kliffe umfahrend, selbst behauptet. Die Kinder verhielten sich aber wie Schiffbrüchige, ihre Selbstbehauptung glich dem Schreien und blinden Herumrudern von Ertrinkenden. Sie nahmen sich das Recht heraus, ihn in ihren Strudel mitzureißen.
Herr Kahn hatte wieder einmal Bekanntschaft mit der Realität gemacht, nach fast vierzig Jahren stand er wieder sich selbst gegenüber. Auf diese Begegnung war er nicht vorbereitet.